Die gnadenlose Enge

Wenn man die Erde bewusst in ihrer faszinierenden und verstörenden Schönheit betrachtet, dann müsste man täglich weinen. Aus Freude und aus Trauer natürlich, in gnadenloser Abwechslung. Denn der Erde scheint unter all ihren vielschichtigen Gaben, einzig die Gnade abhandengekommen zu sein. Sie kennt das Hin und Her des Dualismus, das Getriebene hinter Sex, Vergleich und Bestätigung, die süß-bittere Frucht der Korruption und Bestechung. Sie kennt das Delirium hinter Verliebtsein, Freude und Glück, genau wie die Oberflächlichkeit hinter „Alles ist Gut!“. Sie weiß, wie blind die Zukunft macht, wie träge die Zeit ist und wie verzweifelt man zurückbleibt, weil die Hoffnung zwar tröstet, doch immerzu enttäuscht. Einzig die Gnade scheint, außer dem kirchlichen Allmächtigen, niemand mehr zu kennen.

Da ich zwar nicht kirchlich, aber keinen Deut weniger allmächtig bin als der Allmächtige selbst, werde ich Ihnen die Gnade zeigen, die schon immer Teil von Ihnen und somit der Erde war. Bereit?

Nummer 1.  Es gibt nur einen Grund, wieso Sie auf diesem verrückten Planeten sind. Wenn Sie es hier schaffen, in dieser verdammten Enge, dann schaffen Sie es überall.

Gnade – was für ein schweres Wort.

Wieso es so schwer ist? Das ist einfach: „Wir sind alle Sünder.“ Schon mal gehört? Ich weiß, viele nicken und beschwören doch gleichzeitig, nicht Teil von diesem Bewusstsein zu sein. Doch das sind wir alle.

Willkommen auf der Erde! Hier spielt das große Drama: „Ich bin nicht verantwortlich!“ und jeder von uns spielt die Hauptopferrolle, sogar die Täter. Die restlichen Rollen übernimmt dann, gezwungenermaßen und tragischerweise, das Massenbewusstsein. Dahinter verbergen sich dann Kirchen, Banken, Politiker, Chefs, Geld, Partner, Familien und alles noch menschlich Erdenkliche, nur nicht Ich.

Und so sind wir alle abhängig geworden. Abhängig von einem Außen, das wir nicht mehr kontrollieren. Da draußen befindet sich auch die Gnade, als unerreichbares göttliches Etwas, das schon lange nicht mehr der verzeihenden Güte sondern der Unterdrückung, dient.

Dem Täter steht die Tat zur Seite, dem Opfer das Opfern

Nach diesem Motto opfern die Menschen ihr Leben dem Drama, der Oper, der Tragödie. Ich erzeuge die größte Enge, die ich erzeugen kann, um bloß nicht Täter zu sein. Das Gute ist ja auf der Seite der Armen, der Leidenden, der Mehrheit. Die Tat beschränkt sich auf die wenigen, die übrig bleiben. Und die sind durchweg verloren, weil sie nicht einmal verstehen, auf welches Spiel sie sich da einlassen. Nimm das Geld, nimm die Macht, aber wenn wir dich mit der kleinsten Lüge erwischen, dann fällst du tief. Richtig tief.

So sieht sie aus, unsere Erde im Moment, schön aufgeteilt zwischen neunundneunzig und einem Prozent.

Die Gelbwesten-Revolution

Natürlich versucht man es wie vor 230 Jahren erneut mit dem Aufstand gegen die Bourgeoisie, weil das im Laufe der Erdengeschichte immer so hervorragend funktioniert hat.

Es wird auch diesmal nicht funktionieren, denn Dualismus lässt sich nicht mit Dualismus auflösen. Das ist physikalisch unmöglich. Dualismus lässt sich mit Bewusstsein auflösen. Und was ist nun dieses Bewusstsein? In einem Satz: Die Erde wird seit Jahrtausenden von den vielen Opfern regiert!  

Diese erzeugen jedoch die Illusion, dass die Täter an der Macht sind, um noch länger im eigenen Elend und Drama vor sich hin zu vegetieren. So muss ich nicht darüber nachdenken, wieso ich auf der Erde bin. Was ich hier mache. Wo ich herkomme. Wer ich bin. Nein. Ich kann weiterhin brav in die Arbeit, Geld verdienen und machen, machen, machen. Die Belohnung meines selbstverschuldeten Deliriums heißt schließlich Urlaub, Party oder Fußballstadion.

Und das ist die traurige Geschichte jeder Revolution. Sobald der Kampf vorbei ist und neben dem einen Krümel ein zweiter versprochener liegt, geht jeder brav zurück an die Arbeit, denn – Was soll er sonst tun? Doch aus vielen Krumen entsteht erst in der Unendlichkeit ein Ganzes. Mehr gibt der Begriff einfach nicht her. Und diese einfache Klarheit sollte jeden aus dem schweren Trott der Unendlichkeit aufwecken: Nummer 2. Hören Sie auf jeden Krümel aufzupicken, holen Sie sich das Ganze. Es ist jetzt schon zu haben.

Stillleben, Paul Cézanne 1865

Fühlen ist keine Kunst, es nicht zu merken ist eine.

Manchmal sitze ich zum Frühstück in meiner altgeliebten italienischen Bar, beim Renato, trinke einen caffè lungo, kämpfe mit der crema in einem überfüllten bombolone und schaue dem Lamentieren der warmherzigen Italiener zu. Meist geht es um Politiker und wie korrupt sie alle sind. Das geht so seit fliegenden 22 Jahren. Nichts hat sich geändert. Die Menschen sind gleich und die Politiker, ihrer widerlichen Bestechlichkeit zum Trotz, auch.  

Alle in dieser Bar wissen das, und alle in dieser Bar haben die Ereignisse, die da kommen würden, perfekt vorausgesagt, doch keiner sieht die Weisheit dahinter.

Wir sehen es Menschen an, welchen Weg sie einschlagen werden, welche Potenziale sie haben, wie weise und weit sie sind. Wir wissen, dass Politiker kleine, verlorene Kinder sind, die stark von der Erde und ihren Reizen nach Macht, Geld und Sex eingenommen und überfordert werden. Aber durch das schnelle Schimpfen verdrängen wir dieses weise, wissende Gefühl und verschwinden im dualistischen Ärger des Kopfes.

„Ich hab‘s dir doch gesagt, der wird mal ein korruptes Arschloch! Vedi ? Te l’ho detto ! Te l’avevo detto ! , regt sich eine leidenschaftlich gestikulierende, bei genauer Betrachtung sehr schöne Italienerin auf. Sie starrt mit weit geöffneten Augen auf einen Bildschirm, der in fast jeder Bar läuft, wie ein Politiker, ich kenne nicht seinen Namen, von der Guardia di Finanza abgeführt wird. Vierzig Sekunden später kehrt wieder Ruhe ein, als wäre nichts gewesen. Dabei ist nicht ihre Stimme leiser geworden oder das Gestikulieren weniger, nein, sie ist einfach nur ruhiger.

Und so sind wir Menschen. Anstatt uns zu fragen, wieso wir diese Sachen wissen, die wir wissen, wieso wir die Zukunft von Menschen und unsere eigene voraussagen können, wieso wir wieder mal Recht hatten, verlieren wir uns im Delirium der ewig gleichen Wiederholung: Ich hab’s doch gesagt. Ich hab’s doch gesagt.

Nummer 3: Fühlen ist so einfach wie Farben sehen, wie Kaffee riechen, wie das Wissen, das es für die Mehrheit der Menschen mit Drama weitergeht, wie ein Atemzug, wie mit mir für ein paar Zeilen in einer italienischen Bar zu sitzen und ja sogar, wie ein aufgebrachtes, „Ich hab’s dir doch gesagt“. Nur wahrnehmen muss man’s.

Und was soll ich jetzt schaffen?

Wenn ein Deutschlehrer sich meinen Text und seine Überschrift durchlesen würde und anschließend seinen schlauen Kopf konsultieren würde, so käme er zu dem Ergebnis einer Themaverfehlung. Weil meine Zeilen nicht immer durchweg einem logischen Zusammenhang folgen oder folgen möchten. Das ist für die streng logisch strukturierte Welt ein Dorn im Auge und die Enge des Massenbewusstseins deklariert mich zu einem Fehler in der Matrix. Ich könnte als Freigeist jetzt dickköpfig reagieren und mich mit dem Massenbewusstsein anlegen, aber im Dualismus kann ich nicht gewinnen, solange ich gewinnen will. Also kehre ich brav zum Thema zurück und versuche den aufmüpfigen Kopf etwas zu beruhigen, obwohl das Gefühl nie einen roten Faden braucht.

Nummer 4: Auf der Erde gibt es nichts zu schaffen oder zu erschaffen, weil Sie und ich und jeder andere bereits alles sind. Alles enthält alles und löst das Neue, das Mehr und jede Sehnsucht auf. Doch versuchen können Sie es. Versuchen mehr zu sein, mehr zu können, Neues zu erschaffen, Weltruhm zu erreichen. Viel Glück!

Die weiche Gnade der leeren Anmut

Was bleibt, am Ende einer langen Reise, ist Leere.

Alles verliert seine Bedeutung. Sinn, Begeisterung, der Drang zu leben sind aufgebraucht. Der Dualismus, das glorreiche Spiel, ist tot und lang vergessen. Nur Schmerz und Angst sind noch da. Schmerz, weil es doch so lange war – ohne Fühlen, ohne Wahrnehmen, ohne mein Ich, ohne das „Ich bin“. Und Angst vor dem „Was jetzt?“.

Es ist die Gnade, die weiche Güte, die Teil des Seins ist, die nun nach Hause kommt. Sie erinnert den Menschen, dass man freiwillig die Erde besucht, dass die Erfahrung von Täter und Opfer eine ganzheitliche und nicht einseitige Erfahrung ist. Dass Leben Wahrnehmung, nicht Wachstum bedeutet, dass alles, was man ist und alles, was man je sein wird, jetzt schon da ist.

Und wenn Sie das ewige Delirium verlassen haben und erneut vor dem großen, leeren Nichts stehen, atmen Sie ein, vergessen Sie die Angst und leben Sie! Das Nächste kommt gewiss von ganz alleine, grüßt im Augenblick und war doch schnell wieder vorbei. Nur das unbekannte Sein scheint eingemeiselt hier zu bleiben, unverrückbar, unvermeidlich und doch, in aller Enge, frei.